Seitenblicke: Wenn Städte die Augen aufschlagen

Warum eine Stadt plötzlich die Augen aufschlägt und uns anschaut, in den Blick nimmt: ein rätselhaftes Geschehen. Wir fühlen uns persönlich gemeint und angesprochen. Wir spüren dann, dass ein Ort nur auf uns gewartet hat, um sich uns im Vorübergehen aus einem überraschenden Blickwinkel zu zeigen.

Ulrike Warmuth, Seitenbilcke: Lissabon, fraktalwerk 2012

Ulrike Warmuth, Seitenbilcke: Lissabon, fraktalwerk 2012

Einen kurzen Moment lang, innehaltend und aufmerkend, fallen wir bei solchen Seitenblicken aus dem Getriebe der Gegenwart. Wir vergessen die ungewisse Zukunft und die Geschichte der Stadt, die uns in solchen Augenblicken als einzelnen Menschen bemerkt. Und dennoch vermitteln sich in ihnen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in dem Gefühl, hier und jetzt am richtigen Ort zu sein, zu spüren was möglich ist und zu verstehen was einmal war.

Ist es möglich, solche Seitenblicke, die im selben Moment eine Stadt uns zuwirft und wir ihr, in Bildern und Worten mitzuteilen? Erfurt, Lissabon, Berlin und Prag – Ulrike Warmuth nimmt uns auf ihre ganz persönlichen Städtereisen mit. Ihre Texte sind Reiseführer, die zu ungewöhnlichen, manchmal auch privaten und intimen Sichtachsen und Ansichten jenseits der Postkarten-Perspektiven touristisch ausgewiesener Sehenswürdigkeiten führen.

Ulrike Warmuth, Seitenbilcke: Erfurt, fraktalwerk 2012

Ulrike Warmuth, Seitenbilcke: Erfurt, fraktalwerk 2012

Ulrike Warmuth, 1980 in Erfurt geboren, lebt heute mit ihrer Familie in Berlin. Weder das Studium der Neueren Deutschen Philologie und Philosophie, noch ihre Dissertation zu Themen der Linguistischen Semiotik haben ihre persönliche, schriftstellerische Fühlungnahme mit Wahrnehmungen, Worten und Bildern außer Kraft gesetzt. Interesse und Leidenschaft für das „Befühlen“ der Sprache konnte durch kein wissenschaftliches Studium der Begriffe, Zeichen und Gesten zufriedengestellt werden.

Ulrike Warmuth begann schon früh mit dem Schreiben eigener Texte – auf der Suche nach einer „persönlichen Sprache“. Literatur hat für sie auch sehr viel mit Musik zu tun – sowohl bei der Form-Komposition als auch bei dem, was an Melodischem und Klang in den Worten mitschwingt. Und: „Auch hinter den Worten noch schreiben“, das ist Ulrike Warmuths langjähriges Arbeitsprojekt und eine Herausforderung, die sie immer wieder annimmt.

Dies tut sie auch in der vierteiligen Sammlung der Städtebilder und -blicke: Als „Seitenblicke“ erscheinen im Fraktalwerk im Juni 2012 zunächst Ulrike Warmuths Momentaufnahmen aus Erfurt und Lissabon. In und hinter die Fassaden von Berlin und Prag wird uns die Autorin im Herbst 2012 schauen lassen: Stadtbesichtigungen mit Streifzügen in Wort und Bild durch eine Architektur der Bewegungen, im Rhythmus einer Sprache hinter den Worten, als Beiträge zu einem Atlas von Spuren, die das Leben in die Gesichter der Städte gezeichnet hat.

Am 6.6.2012 liest Ulrike Warmuth bei der Veranstaltung Dichter zusammen. Eine west-östliche Lesenacht der Landesvertretung des Saarlandes in Berlin aus ihren Texten.

Lateritour: Kofferworte als Flaschenpost

Koffer, die Ziegelsteine (Laterite) enthalten, aber auch: Flaschen und Flaschenposten, Wörter, Geheimfächer, Bilder unter Glas, Glasschreiben, Tonscherben. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich Materialien, die in der Regel als Container oder Teile von Behältern angesehen werden, die am Rande der Aufmerksamkeit liegen, weil sich die Aufmerksamkeit auf das richtet, was sie beinhalten, ihren Inhalt. Aber wenn dieser sich verflüchtigt hat: Welche Spuren zeigen dann die Mauerfragmente der Gehäuse und Häuser, die Koffer und Schachteln, die Flaschen und Container?

Robert Krokowski, Melanchronia, Kofferinstallation 2011

Als Lateritour bezeichnet Robert Krokowski scherzhaft seine Installationen mit Ziegelfragmenten und Erosionsformen aus gebranntem rotem Ton. „Lateritour“ ist ein Kofferwort und zugleich ein Paragramm und ein Anagramm. Unschwer kann man das Wort „Literatur“ herauslesen, die sich hier als archäologische und auch detektivische Reise erweist.

Robert Krokowski, Kofferwort auf Reisen, 2009-2010

Robert Krokowski, Kofferwort auf Reisen, 2009-2010

Geraten die Buchstaben eines Wortes in Bewegung, werden sie aus festen Kombinationen herausgelöst, treten sie zu neuen Konfigurationen zusammen – dann zeigen sich überraschende Zusammenhänge. Und plötzlich fragt man sich nicht mehr, welche Bedeutungen in ein Wort gesteckt wurden – sondern welche Bedeutungen es entfaltet, wenn es als Koffer der möglichen Buchstabenkombinationen gesehen wird, die in ihm stecken.

Robert Krokowski, Redsonanzkoffer, Kofferinstallation 2009

Robert Krokowski, Redsonanzkoffer, Kofferinstallation 2009

Kofferwort, mot-valise, portmanteau word – die Kofferinstallationen von Robert Krokowski stehen in engem Zusammenhang mit Wortbildungen, deren wissenschaftliche Beschreibung offenbar schwerfällt: Handelt es sich um Verschmelzungen, Kontaminationen, Amalgamisierungen, Kontraktionen, Mischungen, Kreuzungen, Zusammenziehungen, Koppelungen oder Verkapselungen von Wörtern in einem neuen Wort? Was also wird von Kofferinstallationen verpackt? Oder was hat sich in ihnen angesammelt und wartet auf das Auspacken einer Lektüre? Sind Kofferinstallationen selbst verschachtelte Texte oder gar lesbare Rebusbilder, deren Bedeutung sich zeigt, wenn sie nur buchstäblich genommen werden?

Robert Krokowski. Lateritlage, 2011

Robert Krokowski. Lateritlage, 2011

In Kofferwörtern werden mit der Zeit die Wörter auf eine ganz buchstäbliche Art und Weise ausgebrütet. Es kann zum Beispiel geschehen, dass sich dabei die Fundstücke einer Lateritour in Literatur verwandeln. Jedes Kofferwort ist ein Inkubator, eine Brutstätte für rote Tonlagen. Was erzählt der Koffer über seinen Eigentümer oder Besitzer, das Reiseziel und den Reisegrund, die Gegenstände des täglichen Bedarfs und die besonderen Mitbringsel, was über den Boten und den Empfänger? Zumal in Kofferwörtern mit Doppelbödigkeiten immer zu rechnen ist.

Robert Krokowski, Flaschenpost, 2009

Ob im Redsonanzkoffer oder in der Melanchronia-Installation – die Kofferinstallationen geben einem roten Ton Resonanz, der sich durch viele der Arbeiten von Robert Krokowski zieht, etwa auch in der Perfomance Enlacements/Umarmungen und der Installation Rote Resonanzen. Weitere Publikationen zu den Kofferwörtern, Flaschenposten und Schachteltextouren in Kürze im Fraktalwerk.

Lage(r)egal als Rebuslager

Pierre Granoux‘ Rebuslager sind Regalkonfigurationen und Konfigurationsregale. Dabei ist die Lage der Dinge und Sachen in ihnen alles andere als egal. „Egalage“ wäre allenfalls ein Palindrom für jene Assemblagen, in denen nicht die aktuelle Einlage wichtig ist, sondern lediglich die temporäre Ablage. Deshalb ist LAGE EGAL (Atelier; Büro, Ausstellungs- und Projektraum für zeitgenössische Kunst) ein Ort für künstlerische Lagebestimmungen, etwa als Lage3zu20.

Pierre Granoux, MELENCOLIA ODER, 2011

Pierre Granoux, MELENCOLIA ODER, 2011

Genau im Kontext dieses Kunstprojektes „Lage3:20“ hat Pierre Granoux zuletzt eines seiner Rebuslager ausgestellt, im Rahmen der Ausstellung Melencholia und Melanchronia. Hier zeigt sich, wie Lagen sich berühren, sich verschachteln, Räume und Zwischenräume erzeugen, die besondere ästhetischer Erfahrungen möglich machen: Das Kunstwerk im Kunstwerk im Kunstwerk … und die Betrachter sehen sich herausgefordert von der Frage, wo sie die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst ziehen wollen. Und schaut man genauer hin, dann löst sich die Grenze nicht selten auf, verwandelt sich in einen Schwellenraum, ein Interface, eine Schnittstelle zwischen Kunstwerken ebenso wie zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Dann zeigt sich, dass ein Lage(r)egal eben nicht Egallage aber auch nicht LAGE EGAL ist.

Pierre Granoux vor einem Rebuslager, LAGE(r)EGAL, 2010

Pierre Granoux vor einem Rebuslager, LAGE(r)EGAL, 2010

Pierre Granoux arbeitet seit vielen Jahren an Rebuslagern, in denen er die Versammlung von Gegenständen immer wieder variiert. Es sind Gegenstände, die er auf dem Basar der modernen Kunst ebenso gefunden hat wie in den Allegorien früherer Kunstepochen, etwa der Dürerschen Melencolia I. Die Dinge und ihre Lagen liegen in Regalen wie die Buchstaben und ihre Wörter in den Worten, in einem Kofferwort zum Beispiel, oder in einem Palindrom. Deshalb sind die Regale auch Container. Sie beinhalten Verlagerungen und Lageverschiebungen wie die Worte die Permutationen ihrer Silben oder die Verdrehungen ihrer Buchstaben beinhalten. Und wie ein Regalager ein leeres Regal beinhalten kann, so kann ein Wort eine Leerstelle beinhalten, eine Lücke, eine Auslassung, eben wie lage()egal.

So finden sich in eigentümlichen Lagen Duchamps Flaschentrockner und Dürers betende Hände und seine Melencolia ebenso wie herabgefallene Buchstaben aus deutschen Parteilogos und Emailletafeln Pariser Straßenschilder; befreite Pinsel müssen nicht mehr aus kaltem Glas graue Asche wedeln, bis sie schwarz werden; und Weinflaschen im Regalager oder im Lage(r)egal treten in heitere Konstellationen mit Aphorismen und Palindromen; Objekte, Bilder und Wörter verbinden sich zu Vexierbildern aus Neu und Alt; Rebuslager geben dem Abgelagerten einen Dreh, durch das es einen aktuellen und auch einen leichten Zug bekommt.

Pierre Granoux, Lageregal/Regalager, 2004

Pierre Granoux, Lageregal/Regalager, 2004

Im Fraktalwerk finden sich in Showroom und als Publikationen die Arbeiten der letzten Ausstellung, aber auch Hinweise und Spuren zu den seit 2002 sich immer wieder verändernden Rebuslagen von Pierre Granoux.

Poesie in alter Schrift

Die Arbeit Poesie ist Teil der neuen Werkgruppe von Christine Berndt, die sich mit dem Thema des Dritten Reiches und seiner Rezeption auseinandersetzt.

Während die erste Werkgruppe Stalingrad ist mein Wiegenlied die Arbeiten:Opernskulptur, kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz und Brief der Jüdin beinhaltet, wird die zweite Werkgruppe ein enges feld die Arbeiten: Poesie, SchattenFuge und Zwei Schienen beinhalten.

Die Arbeit Poesie zeigt eine alte Frau, die in ihrer häuslichen Umgebung Texte aus einem Poesiealbum liest, das aus der Zeit ihrer Jugend stammt. Wie ähnlich klingen die Sprüche in diesem kleinen intimen Buch, vergleichbar dem Inhalt des eigenen kleinen Büchleins, das wohl viele in ihrer Jugend besessen haben – und doch, wie sehr hört man das Gelesene auf dem geschichtlichen Hintergrund. Es sind die kleinen Worte, die plötzlich auftauchen, obwohl sie nicht zwangsläufig da hin gehören: „Auf Wiedersehen“ – oder aber eine Leerstelle wo sonst steht: „zur freundlichen Erinnerung“. Kleine Unterschiede in ritualisierten Satzformeln werden zu Stolpersteinen.

Die Einträge des Poesiealbums sind in Sütterlin-Schrift geschrieben, in einer Handschriftart also, die heute nur noch von wenigen gelesen werden kann. Für die alte Frau, zu deren Jugendzeit die Sütterlinschrift noch die übliche Schreibschrift war, ist das Lesen in den Einträgen des Poesiealbums von 1937 die Begegnung mit etwas Fremdgewordenem und sehr Bekannten zugleich. Die Texte des Poesiealbums sieht sie während des Lesens zu erstem Mal.

Der Berliner Grafiker Ludwig Sütterlin (1865-1917) hatte 1911 im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums eine Schreibschriftvariante der Druckschrift Fraktur entwickelt. Diese war bereits ab dem 16. Jahrhundert gebräuchlich. Die Sütterlinschrift wurde 1915 an preußischen Schulen eingeführt. Auch in der Zeit des NS wurde die Schrift bis 1941 einheitlich im Schulunterricht gelehrt. Deshalb wird Sütterlinschrift als „deutsche Schrift“ auch oft im Kontext der NS-Ideologie wahrgenommen. Allerdings wurde die Sütterlinschrift schließlich unter direkter Einmischung von Hitler abgeschafft. Argument (Zitat aus einem Rundschreiben Bormanns von 1941): „Die sogenannte gotische Schrift als eine deutsche Schrift anzusehen oder zu bezeichnen ist falsch. In Wirklichkeit besteht die sogenannte gotische Schrift aus Schwabacher Judenlettern. Genau wie sie sich später in den Besitz der Zeitungen setzten, setzten sich die in Deutschland ansässigen Juden bei Einführung des Buchdrucks in den Besitz der Buchdruckereien und dadurch kam es in Deutschland zu der starken Einführung der Schwabacher Judenlettern.“

Auch in ihrer Arbeit Poesie rückt Christine Berndt wieder die Begegnung mit Schrift und Sprache in einen besonderen künstlerischen Blickwinkel, der in Zeugnissen der Vergangenheit aufspürt, was zeitgenössischer Betrachtung noch unlesbar schien. Die Arbeit Poesie wurde von Christine Berndt zuletzt 2011 in der Ausstellung Melencholia und Melanchronia gezeigt. Die DVD der 15-minütigen Lesung Poesie ist soeben im Fraktalwerk erschienen.

Am 18.2. 2012 zeigt Christine Berndt im Rahmen der Ausstellung: manchmal ist noch alles danach in der Galerie Weißer Elefant (Eröffnung 19:00)  ihre Arbeit:
Brief der Jüdin (2008) und in Gegenüberstellung die neue Arbeit: SchattenFuge (2012).

Paragramme, revisited and reloaded

Für die soeben in der Edition CH erschienene und von Günter Vallaster herausgegebene Textsammlung Paragramme hat Robert Krokowski einen Beitrag verfasst, in dem er einen Bogen von seinen textpraktischen Experimenten der 1980er Jahre über Objekte der 1990er Jahre bis zu aktuellen Installationen schlägt.

Wunderood

Robert Krokowski, Wunderood, Pragramm auf Glas, 1993

In diesem Sammelband findet sich auch ein Abbildung des Paragramms auf Glas Wunderood von 1993, zu dem soeben im Fraktalwerk eine ePublikation erschienen ist. Diese zeigt Variationen des Paragramms: Das Glas wurde auf andere Materialien gelegt (Ziegel, Holz) und gescannt. Die Scans wurden dann bearbeitet. Entstanden ist so eine Sammlung von 20 paragrammatischen Variationen zum Thema Wunderood. Als Print-Loseblattsammlung wurde sie im Rahmen der Wunderkammer-Ausstellung im Sommer 2011 (Lage3:20 #4) dem Objekt hinzugefügt. Die Glasscheibe mit dem Paragramm und die Loseblattsammlung werden in Kürze im Fraktalwerk-Showroom ausgestellt.

Zum Sammelband ist im Freitag eine Rezension erschienen.

Rote Resonanzen

Künstlerische Arbeiten, die einander und dem Thema Resonanz geben: Eingeladen zur Ausstellung im Rahmen des Projekts sommer der umarmung, III – ein ort für zeitgenössische kunst, zeigten Pierre Granoux und Robert Krokowski vom 07. August bis 15. September 2009 Installationen in den Ausstellungsräumen und auf dem Gelände der Torstraße 111 in Berlin.

Remise der Tor 111

Remise der Tor 111 - ein zeitgenössischer Ort für Kunst

Im Fraktalwerk ist soeben die Publikation Rote Resonanzen zwischen Du und Du erschienen. Fotos und Texte zeigen, wie die Arbeiten von Pierre Granoux und Robert Krokowski 2009 dem Thema der Ausstellung und einander Resonanz geben. Beide Künstler haben seitdem Aspekte der damaligen Arbeiten in gemeinsamen Projekten und Einzelarbeiten weitergeführt. Mehr dazu in Kürze an dieser Stelle – und auf den Verlagsseiten.

Von Lage Egal zum Showroom

Mit Schluss der Austellung „Melencholia und Melanchronia“ in Lage Egal können die Kunstwerke ab sofort im Fraktalwerk-Showroom betrachtet werden. In den nächsten Wochen werden dort  weitere Arbeiten der beteiligten Künstlerinnen und Künstler zu sehen sein, ab Januar 2012 weitere thematische Ausstellungen

Robert Krokowski und Jofroi Amaral mit Besucherinnen und Besuchern am Modell Lage 3zu20

Robert Krokowski und Jofroi Amaral mit Besucherinnen und Besuchern am Modell Lage 3zu20.

In Kürze finden sich auf der Fraktalwerk-Website auch die ersten Print- und ePublikationen. Diese werden aktuell unter Einbezug von Fotos aus der Ausstellung fertiggestellt.

Stöbern in den ersten Ansichtsexemplaren der Fraktalwerk-Printpublikationen.

Stöbern in den ersten Ansichtsexemplaren der Fraktalwerk-Printpublikationen.

In den ePublikationen werden nicht nur die aktuellen Kunstobjekte der Ausstellung im Detail angeschaut werden können: Texte und Bilder beziehen auch die manchmal langjährige Entstehung und Entwicklung der Arbeiten ein und zeigen Variationen, Transformierungen, neue Versionen und Lesemodelle.

Charlotte Buff | Autodafeu

Schlagwörter

Veränderung gestalten

autodafeu.transformierungen heißt: Veränderung gestalten. Charlotte Buff bearbeitet im Rahmen dieses Projektes eine Auswahl ihrer hauptsächlich in den 1990er Jahren entstandenen Objekte neu und formt aus den Verbrennungsergebnissen neue Kunstobjekte.

In der performativen Aktion autodafeu  verbrannte die Künstlerin im Mai 2008 auf dem Johannes-Selenka-Platz vor der Hochschule der Bildenden Künste (in der Charlotte Buff 1985 bis 1991 bei Emil Cimiotti und Georg Kiefer Freie Kunst studierte) in Braunschweig die ersten drei Großobjekte aus Papier. Die Aktion war Beginn einer kreativen Praxis, die als persönliche aber auch formale Wandlung, als permanenter Veränderungsprozess begriffen und gestaltet wird. transformierung 1 zeigt die Ergebnisse der ersten Projektphase, der weitere folgten. Die Transformierung einer Transformierung ist aktuell in der Ausstellung „Melencholia und Melanchronia“ in Lage Egal, Berlin, Danziger Str. 145 zu sehen.

Robert Becker und Charlotte Buff bei der Ausstellungseröffnung von "Melencholia und Melanchronia" am 21.10.2011 in Lage Egal, Berlin

Charlotte Buff und Robert Becker bei der Ausstellungseröffnung von "Melencholia und Melanchronia" am 21.10.2011 in Lage Egal, Berlin

Der Ursprung des Wortes autodafé stellt einen Glaubensakt oft in den Kontext von Verbren­nungen. Das Wort „Feuer“ wird im Titel des Kunstprojekts mit der Akzentuierung des fran­zösischen Wortes „feu“ betont. Damit ergibt sich für das Projekt eine Bedeutungsverschiebung: Die künstlerische Aktion des autodafeu findet mit Bezug auf das autodafé nicht als Glaubensakt, sondern als Auflösungsakt fixierter Formen statt. Das Wort betont die Tatsache, dass es sich im Autodafeu-Geschehen um Produktion im Rahmen einer künstlerischen Werkstatt handelt.

Mit dem Projekt autodafeu.transformierungen setzt Charlotte Buff ihre Auseinandersetzung mit dem ReCyclieren von Formen und Materialien fort, dem sie sich seit den 1980er Jahren widmet. Ihre Werke sind Variationen von Auflösung und Erneuerung, Versionen in einem Prozess gestalteter Veränderung. Fraktalisierung und ReFormierung von Fraktalen zu Formen, ReCyclieren von Formen und Mate­rialien: „Verbrennungsreste“ (zum Beispiel Asche, Schlacke, Draht) werden zu neuen Formen verarbeitet (Photos, Filmbilder, Objekte).

Es handelt sich bei dem Autodafeu Charlotte Buffs also nicht um eine Tilgungsaktion auf einem Scheiterhaufen. Es handelt sich auch nicht um ein mit Bedeutung und Bedeutsamkeit aufgeladenes Fanal. „Autodafeu“ wird vielmehr zur Bezeichnung der Formauflösung von Objekten und Installationen verwendet, bei denen formale und materiale Effekte des Verbrennungsprozesses (Feuerschein/Rot/Licht) und seine „Reste“ (Asche/Schwärze/Dunkel) als Medien genommen und zu neuen Formen verarbeitet werden: Bearbeitungen von Photos und Filmaufnahmen der Verbrennung und ihre Verdichtung zu plastischen Objekten.

Charlotte Buff, Performance Autodafeu, Braunschweig, Platz vor der Hochschule der Künste, 23. Mai 2008

Charlotte Buff, Performance Autodafeu, Braunschweig, Platz vor der Hochschule der Künste, 23. Mai 2008

Das Projekt autodafeu.transformierungen findet 2008 bis 2011 in Braunschweig und Berlin statt, Wirkungstätten der Künstlerin, deren Arbeiten oft Bezug auf den historischen und öffentlichen Raum nehmen. Die Objekte, die im Laufe des Projekts zum Material der Transformierungen werden, sind selbst (als ReFormationen und TransFormationen) schon Resultate Materialbearbeitung und formaler Durcharbeitung. Im Wandlungs- und Verwandlungsprozess von autodafeu.transformierungen durchlaufen sie neue Entwicklungs-, Auflösungs- und Bildungsstufen. Die Resultate sind vielfältig: Die vollständige Verbrennung selbst wird zur Performance, im Verglühen der Objekte werden diese zu augenblickshaften Flammenskulpturen, die sich sogleich in kurzlebige Armaturinstallationen verwandeln. Ausschnitte (oder Fraktale) des Geschehens umfassen wiederum Ausschnitte: Ascheflugmomente oder das Zerfallen von Ascheknäueln.

Schon die Verbrennung selbst ist ein Transformierungsgeschehen, dem Charlotte Buff durch die Schaffung des Rahmens (z. B. Ortswahl, beteiligte Personen, zeitlicher Ablauf, Wahl der Kunstwerke) Spielraum gibt. Zugleich aber werden durch den Einsatz von Instrumenten (Fotoapparat, Filmkamera, Kehrblech, Personen)  Produktionsergebnisse (Bilder, Lichtsequenzen, Asche, Drahtverschlingungen) gesammelt und für die weitere Transformation und Transposition vorbereitet. Die „Performance“ erweist sich als „Atelierbesuch“, als Möglichkeit der öffentlichen Teilhabe am Bearbeitungsgeschehen. „Autodafeu“ wird zur Bezeichnung eines „Werks“ als Produktionsraum und Produktionsgeschehen (als einer Art „Objektschmiede“), in denen die „Reste“ und „Aufnahmen“ des Bearbeitungsprozesses sich als Rohstoff und Zwischenstufen für Fertigung und Herstellung erweisen: Material, Materialisierungen, Materialformen, Formmaterialien, Formformen, Formen.

Wo in diesem Prozess bleiben die Kunstwerke als Endresultate eines Gestaltungsprozesses? Sind es die Ergebnisse des Transformierungsgeschehens, die neu entstandenen Objekte (Fotos, Filme, Objekte, Installationen), die zum Beispiel die Ausstellung im Allgemeinen Konsumverein Braunschweig im Oktober 2008 versammelt? Es ist möglich, aber nicht sicher. Denn der Blick auf Charlotte Buffs Arbeiten zeigt, wie schnell Kunstmomente und Kunstwerke zum Ausgangsmaterial neuer Formen und Ausstellungsräume zu „Zwischenlagern“ im Rahmen eines Umwandlungsprozesses werden können. Vergehen, Geschehen und Entstehen sind untrennbar miteinander verbunden. Sollen Ergebnisse dieses Prozesses bewahrt werden, so besteht wohl die Notwendigkeit, sie ihm zu entziehen. Was ein ganz anderes Licht auf die Frage der Entäußerung von Kunst oder die Notwendigkeit ihres Erwerbs wirft.

Objekte von Charlotte Buff werden ab November 2011 im Showroom des Verlages gezeigt, Prints und ePublikationen zu ihren Arbeiten werden in Kürze erscheinen.

Going Public

Robert Becker, Falk Engelmann (Fraktalwerk) und Ulf Heuner (Parodos) in Lage Egal

Treffen bei der Eröffnung der Ausstellung „Melencholie und Melanchronia“ im Projektraum von Lage 3:20, Lage Egal. Robert Becker, Falk Engelmann (Fraktalwerk) und Ulf Heuner (Parodos) Aber an diesem Abend standen selbstverständlich die Kunstwerke im Fokus der Aufmerksamkeit. Erste Publikationen zu diesen bei Fraktalwerk im November 2011.

Melancholie und Melanchronia, Projektraum Lage3:20

Schlagwörter

Melancholie und Melenchronia

Melencholia und Melanchronia

Ausstellung im Projektraum Lage3:20 vom 21. Oktober bis 30. Oktober 2011 in Lage Egal, Danziger Str. 145, 10407 Berlin

Seit fast 500 Jahren wirft die Schwarze Sonne in Dürers Kupferstich und Allegorie Melencolia I ihre Strahlen durch die Zeit und ihre Schatten auf die Dinge auch der Kunst. Wie stellt sich Melancholie heute dar? Schwermut, Trauer, Verlust, Tod, schwarze Versenkung – aber auch Erinnerung, leichter Mut, Verwandlung, Erneuerung, Besinnlichkeit, überraschende Auslotungen des Schwarzen in seinen Schattierungen: Die Ausstellung Melencholia und Melanchronia im Projektraum Lage3zu20 zeigt acht Positionen und 16 Blickwinkel zeitgenössischer Kunst.

Die Einladung zur Mitwirkung an der Ausstellung erfolgte durch Pierre Granoux und Robert Krokowski im Kontext ihrer Arbeiten Melencolia und Melanchronia. Es stellen aus ihre Arbeiten in Lage Egal mit Resonanzen zu diesen in Lage3zu20:

Jofroi Amaral, 4 Squares, Black lacquered wood, 2009
Christine Berndt, Poesie, Videoinstallation, 2011
Charlotte Buff, Asche-Bild und Projektion, 2011
Pierre Granoux, Melencolia Oder, Verschiedene Glas- und Metallobjekte auf einem Holzregal, 2002–2011
Katharina Kritzler, Ohne Titel (Kühtai II), Fotografie, 2005/2011
Robert Krokowski, Melanchronia, Kofferwortinstallation, 2005-2011
Ricarda Mieth, it’s swings and roundabouts, kinetic soundinstallation, bowls and turntable, 2011
Marlen Wagner, colour the death, Fotografie, 2011

– und Texte, Künstlerbücher, Publikationen und Auflagenkunst aus dem Kontext dieser Arbeiten.

Eine Ausstellung von Lage3zu20 in Zusammenarbeit mit fraktalwerk.

Mit freundlicher Unterstützung der cine plus Media Project Berlin GmbH